Antrag :
1. Rückführung der 1810 geraubten Kunstschätze, die in Münchner Depots lagern
2. Ausstellungskonzept Regensburg 1810
3. Gedenkveranstaltungen zum 1.000. Geburtstag von Otloh von St. Emmeram
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
folgenden Antrag bitten wir in den zuständigen Gremien zu behandeln.
Regionale Geschichtskultur wirkt im Zeitalter der Globalisierung in besonderer Weise identitätsstiftend. Der Stadtrat möge deshalb beschließen:
- Rückführung der 1810 aus Regensburg nach München gebrachten Kunstschätze, die noch in Depots lagern sowie geraubter Architekturteile:
1.1. Es ist davon auszugehen, dass von den 1810 im Zuge der Angliederung an das Bayerische Königreich in sehr großen Umfang aus Regensburg entwendeten und nach München gebrachten Kunstschätzen nur ein Teil bisher in Münchner Museen (u. a. im Bayerischen Nationalmuseum) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde und noch ein beträchtlicher Teil in Depots lagert. Die Stadt Regensburg fordert daher die Rückführung derjenigen 1810 aus Regensburg geraubten Kunstgegenstände, die seit 200 Jahren in Münchner Depots liegen.[1]
1.2. Diese der Öffentlichkeit bisher nicht zugänglichen Kunstschätze sollen nach 200 Jahren in Regensburg ausgestellt werden. Dafür wäre eine Außenstelle des historischen Museums zu schaffen. Das Kulturreferat prüft geeignete Möglichkeiten. Denkbar wäre das heutige Polizeipräsidium am Bismarckplatz (die ehemals französische Botschaft).
1.3. Neben der Rückführung solcher in Depots lagernden mobilen Kunst (Bilder, Kelche etc.) sollen geraubte Architekturteile – im Gegensatz zum Raub mobiler Kunst ist dieser Raub eine Beschädigung der Kunst – zurückgefordert werden, um damit „Heilungen“ an der Architektur zu vollziehen. Als erstes wäre an die Rückführung der geraubten Glasfenster aus der Minoritenkirche zu denken.
1.4. Gegebenenfalls wäre zu überlegen, ob das berühmte Giselakreuz, ein mit Goldblech verkleidetes Holzkreuz, das die Königin Gisela von Ungarn für ihre verstorbene Mutter Gisela von Burgund dem Kloster Niedermünster Regensburg gestiftet hat, zurückgefordert werden soll. Das Kreuz wurde um 1006/1007 in Regensburg hergestellt und im dortigen Kloster Niedermünster, der Begräbnisstätte der Gisela von Burgund aufbewahrt. Heute befindet es sich in der Schatzkammer der Münchner Residenz. Es könnte in einer Ausstellung zum Thema „Regensburg 1810 – der Niedergang einer freien Reichsstadt“ eine würdige Rückkehr feiern. Eine solche Rückführung hätte einen hohen symbolischen Wert.
1.5. Zum Zwecke der Rückführung der aus Regensburg stammenden und in Münchner Depots lagernden Kunstgegenstände soll unter wissenschaftlicher Leitung (denkbar in Zusammenarbeit mit der Universität Regensburg) eine Liste aller im Jahr 1810 aus Regensburg verschwundenen Kunstschätze, soweit diese im Rahmen des Möglichen noch zu ermitteln sind, erstellt werden, unter besonderer Berücksichtigung der in den Depots lagernden Kunstgegenständen.
1.6. Für einen späteren Zeitpunkt wäre die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, eine Ausstellung mit den ursprünglich aus Regensburg stammenden und jetzt in Münchner Museen ausgestellten Kunstgegenständen als Leihgaben aus München zu planen.
2.1. Das Kulturreferat erarbeitet ein Konzept für eine Ausstellung, die den kulturellen Niedergang der Stadt nach 1810 aufarbeitet und dabei die Formen bürgerlicher Kultur in Zeiten der Krise und knapper Kassen aufzeigt. Dabei werden die Bemühungen der Bürgerinnen und Bürger einbezogen, die nach 1810 versuchten, dem kulturellen Verfall entgegenzuwirken. In Zusammenarbeit mit der Universität ist auch an eine Vortragsreihe und/oder einen Forschungskongress zu denken.
2.2. Die unter Punkt 2.1. genannte Ausstellung wird thematisch mit dem Kulturverfall in Krisenzeiten verbunden. Dabei geht es darum, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie dem in Zukunft begegnet werden kann. Hierbei sollte z.B. ein langfristiges Projekt mit arbeitslosen Jugendlichen im Bereich der Archiv- und Denkmalpflege angeschoben werden.
- Der 1.000. Geburtstag von Otloh von St. Emmeram (um 1010 – ca. 1070) wird mit Veranstaltungen und einer Ausstellung gebührend gefeiert. Otloh wirkte von 1032 bis zu seinem Tod in St. Emmeram.
Er „war ein begabter Schriftsteller, der nicht vor Kritik an Kirche und Klerus zurückschreckte. Doch wurde er zeitlebens immer wieder von schweren Gewissenskonflikten belastet, die teilweise in den Schilderungen seiner Visionen fassbar sind. So hatte er beispielsweise eine Vorliebe für Werke antiker Autoren (z.B.Lukian), deren Lehren aber in Gegensatz zu seinem christlichen Glauben standen.“ [2]
Otloh ist zweifellos der herausragendste Vertreter der Blütezeit St. Emmerams im 11. Jahrhundert. Neben den vielen in mühseliger Kopistentätigkeit von ihm hergestellten Handschriften zählen erbauliche, theologische, hagiographische (u.a. eine Vita des Regensburger Bischofs Wolfgang) und autobiographische Schriften zu Otlohs umfangreichen Werk. Letztere vor allem sind für die Geschichte der Autobiographie in Deutschland von besonderer Bedeutung.
Vor diesem Hintergrund wird das in den letzten Jahren stark angestiegene wissenschaftliche Interesse an Otlohs vielfältigem Werk verständlich, welches u.a. auch zu psychoanalytischen Studien geführt hat. Aber noch längst sind nicht alle lokalen Bezüge zu Regensburg in Otlohs Schriften geortet und hinreichend erforscht. Der originelle Lehrer und Literat von St. Emmeram ist auch rund eintausend Jahre nach seinem segensreichen Wirken ein noch zu entdeckender Dichter in der Domstadt an der Donau.
Mit freundlichen Grüßen
Irmgard Freihoffer
Anlage:
Geschichtlicher Hintergrund zu Punkt 1
Weitere Ausführungen zu Punkt 3
Anlage
Geschichtlicher Hintergrund zu Punkt 1
Dr. Heinrich Wanderwitz, Leiter des Amtes für Archiv- und Denkmalpflege in Regensburg, schreibt in seinem Artikel „Wie Regensburg beinahe Hauptstadt geworden wäre“ über das Ausmaß der Plünderungen in der ehemals freien Reichsstadt nach dem Anschluss an das bayerische Königreich:
„War die Stadt, die mit ihrem steinernen Donauübergang ein wichtiges strategisches Tor zum habsburgischen Machtbereich darstellte, in den Koalitionskriegen noch unerreichtes Ziel der französischen Armeen geblieben, so erschien das Heer Napoleons bei der Verfolgung der geschlagenen österreichischen Armee am 23. April 1809 vor Regensburg, das von einer Handvoll Österreichern verteidigt wurde. Nach schwerem Artilleriebeschuss stürmten die Franzosen die Stadt und begannen umgehend mit der Plünderung: 3 000 Bürger wurden gänzlich ausgeplündert oder obdachlos, rund ein Sechstel der Stadt wurde gänzlich zerstört, die vom Kaiser der Franzosen versprochenen Entschädigungen blieben aus. Dafür schanzte der große Napoleon dem bayerischen König im Jahr darauf die alte Reichsstadt zu: Regensburg wurde zur bayerischen Landstadt mit Sitz einer Kreisregierung. Der wittelsbachische König hatte ein von seinen Vorfahren seit 600 Jahren hartnäckig verfolgtes Ziel erreicht und Regensburg, die erste Hauptstadt Bayerns, in den bayerischen Staatsverband zurückgeholt. Hatte Napoleon die Stadt in große materielle Not gestürzt, so nahmen die jetzt in Regensburg wirkenden bayerischen Kommissare der Stadt ihre kulturelle Tradition: Archive, Bibliotheken und Kunstschätze wurden erfasst, bewertet und dann entweder nach München gebracht oder verkauft bzw. versteigert. Bis heute weiß niemand genau, was bei diesen Aktionen aus Regensburg weggeschafft wurde. – Aus der heimlichen Hauptstadt des Alten Reiches war eine ausgeplünderte, arme, bayerische Provinzhauptstadt geworden.“
(Zitiert nach: Dr. Heinrich Wanderwitz, „Wie Regensburg beinahe Hauptstadt geworden wäre“. In: aviso 3/2005 (http://www.stmwfk.bayern.de/downloads/aviso/2005_3_aviso_12-15.pdf).)
Bei solchen Fällen von gezielter kultureller Ausplünderung von Städten im Zusammenhang mit Kriegshandlungen spricht man heutzutage ganz unverblümt von Beutekunst bzw. Kunstraub. Dieser Umstand scheint hier gegeben, denn Regensburg wurde ja zum Tauschobjekt des französischen Siegers nach dem gewonnenen Krieg. Der Hofkommissär Freiherr von Weichs berichtete 1810 ganz ungeniert nach München, „dass die Ausbeute von Gemälden, die sich in öffentlichen Gebäuden befänden, groß ausgefallen sei, und bat den König, doch einige davon in Regensburg zu lassen und dort deshalb ein Kunstmuseum einzurichten.“ Der Münchner Galeriedirektor Christian von Mannlich unterstützte diesen Plan, aber ein Gutachten der Münchner Kunstakademie sprach sich, vermutlich auf Weisung von König Max I. Joseph, dagegen aus.
(Zitiert nach: Birgit Angerer: „Kunst im 19. Jahrhundert“. In: Peter Schmid (Hg.): Geschichte der Stadt Regensburg. Bd. 2. Regensburg 2000. S. 1191.)
Auch Matthias Freitag erwähnt in seiner Kleinen Regensburger Stadtgeschichte diese für Regensburg schmerzlichen Verluste nach 1810:
„Es war ein tiefer Sturz, den Regensburg 1810 erlebte. Jeglicher Ausnahmecharakter der Stadt ging verloren. Der Reichstag und seine einzigartige Atmosphäre waren schon seit Jahren verschwunden; jetzt verschwand mit Dalberg der letzte Rest von großer Welt. Die neuen Herren taten ein Übriges: Ganz bewusst wurden alle Elemente von Selbstverwaltung getilgt und die Stadt streng zentralistisch von München aus regiert. Besonders schmerzhaft (und bis heute spürbar): Große Mengen von Kunstschätzen aus besseren Zeiten wurden entfernt und verschwanden in bayerischen Depots und Schatzkammern; fast könnte man von einer systematischen Ausplünderung sprechen.“
(Zitiert nach: Matthias Freitag, Kleine Regensburger Stadtgeschichte, Regensburg, 1999, S. 130)
Weitere Ausführungen zu Punkt 3:
In den Schriften des Mönchs Otloh von St. Emmeram, einem Mann des 11. Jahrhunderts, wird nicht nur ein frühes Stück Regensburger Bildungs- und Frömmigkeitsgeschichte lebendig, sondern auch das geistige Ringen des vorscholastischen und noch nicht im Zeichen des Investiturstreits stehenden Mittelalters exemplarisch erfasst.
Das Leben …
Otloh entstammte einer wohlhabenden Familie und wurde um das Jahr 1010 in der Diözese Freising geboren. Die Eltern ließen ihrem Sprössling eine sorgfältige Erziehung zuteil werden, die ihm eine aussichtsreiche Zukunft eröffnen sollte. Um das Jahr 1016 begann sein Bildungsgang im Benediktinerkloster Tegernsee. Schon als Knabe fiel Otloh durch den Hang zum Schreiben auf. Heimlich betrieb er Schreibübungen, kritzelte mit noch ungelenker Hand Buchstaben in alte Wachstafeln und zeigte bald eine erstaunliche Geschicklichkeit in der nützlichen Kunst des kopierenden Abschreibens. Angetan vom geistlichen Leben in der arbeitsamen Atmosphäre zwischen Bibliothek, Scriptorium und Kirche und bestärkt von seinen schulischen Erfolgen gelobte Otloh ins Kloster einzutreten, sobald er das für ein Noviziat vorgeschriebene Alter erreicht hatte. Die Eltern standen diesem Plan ihres – vermutlich einzigen – Sohnes von Anfang an skeptisch gegenüber. Frühzeitig wurde Otloh als begabter und fleißiger Schreiber auf Reisen in benachbarte Klöster geschickt. Im Jahr 1024 wurde er nachweislich als Schreiber nach Hersfeld ausgeliehen, wenig später aus dem gleichen Grunde zu Meginhard, dem Bischof von Würzburg, geschickt. Diese Studien- und Wanderjahre prägten Otloh nachhaltig. Reich bewandert in der freien Wissenschaft kehrte er im Novizenalter nach Tegernsee zurück, nahm aber auf Bitten seines Vaters – und weil er Gefallen am weltlichen Leben und den „Reizen fleischlicher Schönheit“ gefunden hatte – Abstand vom monastischen Leben. Otloh scheint eine Laufbahn als Weltkleriker eingeschlagen zu haben, die aber jäh endete, als er einen Rechtsstreit mit einem Freisinger Archipresbyter provozierte und seine öffentliche Spottlust in dieser Sache nicht zu zügeln vermochte. Der angedrohten Haft entzog sich der reiselustige Gelehrte, indem er seine Schritte nach Regensburg wandte und bei Abt Burchard im Kloster St. Emmeram um gastfreundschaftliche Aufnahme bat. Bei den St. Emmeramern erweckte Otloh einen guten Eindruck: „instructus aliquid in liberali scientia“, weshalb man ihm als Lehrer an der äußeren Schule eine freundliche Aufnahme gewährte. Neben der Lehrtätigkeit für die Mönche am Scriptorium fand Otloh hinreichend Zeit für seine eigenen Studien in der Emmeramer Bibliothek, und vieles spricht dafür, dass er sich vornehmlich eben wegen dieser Bibliothek Regensburg als Zufluchtsort erwählte. Da Otloh sich schon in seinen Jugendtagen nach einer Umgebung mit „einer Menge Bücher“ sehnte, so ist diese Wahl nicht weiter verwunderlich; es bleibt aber anzumerken, dass es sich hierbei in erster Linie nicht um geistliche Bücher handelte, die der junge Gelehrte zu studieren wünschte, sondern um die antiken Schriftsteller, die er im Laufe der Jahre auf seinen Reisen in die nahen und fernen Klöster kennen und lieben gelernt hatte. Die überlieferten Werke der griechischen und römischen Dichter und Philosophen der Antike standen als Streitobjekte im Zentrum fast aller geistig bedeutsamen Kreise des Mittelalters und sollten auch Otlohs Lebensgang entscheidend beeinflussen. Denn kaum hatte Otloh sich den „heidnischen“ Schätzen der St. Emmeramer Bibliothek zugewandt, befielen ihn schwere, vermutlich auch seelisch bedingte körperliche Leiden,[3] die er und seine fromme Umgebung nur als göttliche Strafe für seine Liebe zu den gottlosen Büchern und der weltlichen Wissenschaft zu deuten vermochten. Otloh versuchte anfangs seine Erkrankung zu verheimlichen, aber sein Zustand verschlechterte sich so drastisch, dass die St. Emmeramer Mönche, auf deren Pflege er über mehrere Wochen hinweg angewiesen war, mit seinem baldigen Ableben rechneten. In seiner Verzweiflung entsann Otloh sich auf sein einstiges Gelübde und trug die offizielle Bitte um Aufnahme ins Kloster vor, die ihm nach seiner wundersamen Genesung kurz nach Ostern 1032 gewährt wurde.
Othloh, ehedem ein unruhige Kleriker, wandelte sich zum fleißigen Mönch. Bald wurde ihm die Leitung der Klosterschule übertragen. An die dreißig Jahre wirkte er in St. Emmeram als Lehrer und Erzieher der Klosterschüler. Um 1055 wurde er zum Dekan ernannt und kämpfte als solcher unerbittlich gegen missliebige Entwicklungen im Konvent an.
Otloh war zweifellos der herausragendste Vertreter der Blütezeit St. Emmerams im 11. Jahrhundert. Neben den vielen in mühseliger Kopistentätigkeit von ihm hergestellten Handschriften zählen erbauliche, theologische, hagiographische (u.a. eine Vita des Regensburger Bischofs Wolfgang) und autobiographische Schriften zu Otlohs umfangreichen Werk. Letztere vor allem sind für die Geschichte der Autobiographie in Deutschland von besonderer Bedeutung.
…und Werk
Einige Zeit nach seinem Eintritt ins Kloster, etwa um 1035, verfasste Otloh ein geistliches Lehrgedicht, das unter dem Titel De doctrina spirituali liber metricus überliefert ist, in dem er den Vorgang seiner religiösen Bekehrung ausführlich schilderte. In der Nachfolge der Confessiones des Augustinus steht in Otlohs autobiographischer Selbstbesinnung als entscheidendes Bekehrungserlebnis die Abkehr von der antiken literarischen Bildung und Kultur hin zur Bibelfrömmigkeit im Mittelpunkt der Darstellung. Im Unterschied zu Augustinus sprunghafter Bekehrung vollzog sich diejenige Otlohs allerdings nur allmählich und ist von Anfechtungen und Glaubenszweifeln begleitet.[4] Es liegt in der Natur der Sache, dass Otloh mit dem Lehrgedicht in erster Linie seine Schüler belehren wollte, aber eigenem Bekunden zufolge diente das Werk auch der Selbstdisziplinierung. Georg Misch, der Verfasser der monumentalen Geschichte der Autobiographie, hat Otlohs Gedicht als die „erste förmliche Autobiographie“ bezeichnet, „die uns aus dem katholischen Mittelalter erhalten ist.“[5] Die eigene Bekehrung steht ferner im Zentrum des „Buchs über die Versuchungen eines gewissen Mönches“, das anderen, vornehmlich jungen Mönchen als Vorbild dienen sollte.[6] Gegen die weltlichen Anfechtungen des geistlichen Lebens schrieb Otloh auch in seiner immer noch lesenswerten Sammlung von Visionen an, dem Liber visionum,[7] das er um 1063 veröffentlichte. Dieses Buch der Visionen zeugt von der Erfindungs- und Fabulierlust Otlohs und der Gang der inneren Entwicklung ist hierin zusammenhängender dargestellt als in dem am Ende seines Lebens geschriebenen Büchlein von seinen Versuchungen, Schicksalen und Schriften (Libellus de suis tentationibus, varia fortuna et scriptis). Die funktionale Einbindung des Autobiographischen in das Schreiben, einhergehend mit der engen Wechselbeziehung von Schrift und Leben, wie sie sich in vielen Schriften Otlohs ausgeprägt findet, wirkte sich gleichsam als „Verselbständigung der Autobiographie“[8] in den nachfolgenden Jahrhunderten stilbildend aus und mündete letztlich in das moderne Projekt auktorialer Selbsterschaffung ein, das beispielsweise von Jean-Paul Sartre (1905-1980) in Les Mots (1964, dt.: Die Wörter) und Elias Canetti (1905-1994) mit Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend (1977) auf höchstem literarischen Niveau verwirklicht wurde.
Vor diesem Hintergrund wird das in den letzten Jahren stark angestiegene wissenschaftliche Interesse an Otlohs vielfältigem Werk verständlich, welches u.a. auch zu psychoanalytischen Studien geführt hat.[9] Aber noch längst sind nicht alle lokalen Bezüge zu Regensburg in Otlohs Schriften geortet und hinreichend erforscht. Der originelle Lehrer und Literat von St. Emmeram ist auch rund eintausend Jahre nach seinem segensreichen Wirken ein noch zu entdeckender Dichter in der Domstadt an der Donau.
[1] Dem heutigen Stand der Diskussion um Beutekunst entsprechend, erscheint eine generelle Rückforderung der aus Regensburg entwendeten und nach München gebrachten Kunstgegenstände, die dort in Museen ausgestellt sind, nicht als sinnvoll.
[2] Zitiert nach Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Otloh_von_St._Emmeram
[3] Vgl. Helga Schauwecker: Otloh von St. Emmeram. Ein Beitrag zur Bildungs- und Frömmigkeitsgeschichte des 11. Jahrhunderts. München 19??.
[4] Vgl. Nikolai Uskov: Die Conversio eines Mönches im 11. Jahrhundert. Otloh von St. Emmeram bei der Arbeit an seiner Autobiographie. In: VHVO 139 (1999). S. 1-39.
[5] Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. 3. Bd.: Das Mittelalter. Das Hochmittelalter im Anfang. 1. Hälfte. Frankfurt a.M. 1959. S. 64.
[6] Vgl. Sabine Gäbe: Otloh von St. Emmeram. „Liber de temptatione cuiusdam monachi“. Untersuchung, kritische Edition und Übersetzung. Bern 1999.
[7] Otloh von St. Emmeram: Liber Visionum. Hg. v. Paul Gerhard Schmidt. Weimar 1989.
[8] Misch, S. 88.
[9] Vgl. zusammenfassend Franz Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. Bd. 2. München 1992. S. 473-483 und 629f. sowie Werner Goez: Otloh von St. Emmeram, Mönch, Kopist Literat. In: Ders.: Lebensbilder aus dem Mittelalter. Die Zeit der Ottonen, Salier und Staufer. Darmstadt ²1998. S. 168-177 und S. 508f.