Ukraine – Kampf um westliche Werte, Freiheit und Demokratie?

Rede zum Antikriegstag am 1.9.22

Der Sieg, so Präsident Zelensky, müsse auf dem Schlachtfeld errungen werden. Auch an einem möglichen Friedensplan nach dem Vorbild der Minsker Vereinbarung besteht kein Interesse[1]. Ebenso rücken auch westliche Politiker*innen immer wieder von einer Verhandlungslösung ab[2]. In der Ukraine würden unsere Freiheit, Demokratie und westliche Werte verteidigt.

Um den Angriffskrieg auf die Ukraine auf das Schärfste zu verurteilen genügt der Hinweis, dass Russland brutal gegen internationales Recht verstoßen hat. Dafür braucht man den pauschalen Appell an „westliche Werte“ nicht. Er vernebelt zudem den Blick auf die Ukraine, die von einem funktionierenden demokratischen Rechtsstaat weit entfernt ist.

Korruption
Seit Jahren pumpt die EU Milliarden in die Ukraine. „Doch noch immer teilen Oligarchen, hohe Staatsdiener und korrupte Staatsanwälte und Richter den Staat unter sich auf, verschwinden Milliarden ins Ausland, ist die Ukraine mit wenigen Ausnahmen beim Aufbau eines Rechtsstaates ebenso wenig vorangekommen wie beim Kampf gegen die Korruption“[3], so der Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofes (ECA) zur Ukraine.

Der Oligarch Igor Kolomoisky stand im Verdacht, bei der größten ukrainischen Bank umgerechnet ca. 5 Milliarden Dollar veruntreut zu haben. Um einer strafrechtlichen Verfolgung zu entkommen floh er ins Ausland. Von dort unterstützte er den Wahlkampf von Wolodymyr Zelensky. Dieser stand unter Vertrag bei der Fernsehgruppe 1+1, die Kolomoisky mehrheitlich gehört. Nach Zelenskys Wahl zum Präsidenten konnte Kolomoisky wieder zurück in die Ukraine kommen, weil er keine Strafverfolgung mehr zu befürchten hatte, nachdem sein Günstling an die Macht gekommen war.

Auch unsere Partnerstadt Odessa macht bei Korruption keine Ausnahme: Der dortige Oberbürgermeister Gennaidy Trukhanov war Ende der 90er Jahre führendes Mitglied einer ukrainischen Mafiabande in Italien. Mit Waffenschmuggel, Drogenhandel, illegalem Ölhandel und Schutzgelderpressung verdienten die Mafiosi ihr Geld, das sie in Firmen auf den Britischen Jungferninseln parkten. Mit dem Kauf hochpreisiger Immobilien in London wurde das Geld gewaschen. Die stellvertretende italienische Polizeipräsidentin berichtet in einer Reportage der BBC von 2018 über Morde und die besondere Grausamkeit des Tötens dieser Mafiabande.[4] Auch als Oberbürgermeister von Odessa führt Trukhanov offenbar seine „Geschäfte“ weiter. Bauaufträge z. B. gehen vorwiegend an seine Firmen und wer das kritisiert, muss um sein Leben bangen. So berichtet eine ukrainische Zeitung 2018 von 14 Mordanschlägen im zurückliegenden Jahr in Odessa an Oppositionellen, die es wagten, diese Dinge öffentlich zu kritisieren.  In der Plenumssitzung am 28.4.22 applaudierte der Regensburger Stadtrat stehend auf Anraten der Oberbürgermeisterin dem live zugeschalteten Oberbürgermeister unserer Partnerstadt. Dem Applaus schloss ich mich aus gutem Grunde nicht an.[5]

Auf dem Weg in einen autoritären Staat
Im Februar 2021 mussten alle oppositionellen Fernsehsender der Ukraine wegen „Russland-Freundlichkeit“ schließen. Das Verbot sah unter anderem den Entzug der Sendelizenzen, TV-Frequenzen sowie die Sperre von Konten für vorerst fünf Jahre vor. Bei Presse- und Radioanstalten in der Ukraine gibt es ähnliche Beispiele. Hier in Deutschland hat man nahezu nichts davon mitbekommen.

Die russische Sprache ist im öffentlichen Leben seit Januar 2021 verboten. Des Weiteren forderte Präsident Selensky im August 2021 alle Menschen in der Südostukraine, die sich zu Russland hingezogen fühlen, auf, dorthin übersiedeln.

Im März 2022 wurde die einzige große regierungskritische Partei – die Oppositionsplattform – verboten und ihr Leiter Wiktor Medwedtschuk danach vom ukrainischen Geheimdienst SBU entführt.

Im Herbst 2021 wurden de facto die Gewerkschaften entmachtet, kollektive Verträge der Gewerkschaften für die Beschäftigten in einer Firma sind seitdem nachrangig gegenüber individuellen Verträgen der Firma mit einzelnen Angestellten.

Ultra-Rechte
Das rechtsextreme Lager will die Minsker Abkommen I und II von 2015, völkerrechtlich bindende Verträge, die den selbsternannten Ostrepubliken u. a. mehr Autonomie garantieren sollten, verhindern. Man will man gegen jeden vorgehen, der die „territoriale Einheit der Ukraine“ durch so eine Politik „in Frage stellt“.[6]

Natürlich, Rechtsradikale gibt es auch in den westlichen Staaten und in der Tat könnte man das zunächst als rein innenpolitisches Problem der jeweiligen Länder ansehen. Aber hier geht es noch viel weiter.

Rechtsradikale besetzen wichtige Posten in Politik, Verwaltung, Polizei und Armee und haben begonnen, das staatliche Gewaltmonopol zu unterwandern[7]. Im Parlament werden sie öffentlich geehrt und rechtsradikale Freiwilligenbataillone wie das Asow-Regiment, mittlerweile sogar in das ukrainische Militär integriert, können unbehelligt ihre Verbrechen begehen. Davon zeugt z. B. auch ein Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) von 2016.  Dieser belegt die schweren Menschenrechtsverletzungen seit 2014 in der Ostukraine, aber auch an Oppositionellen in der Ukraine. Dazu zählen Mord, Vergewaltigungen, Entführungen, Folterungen.[8]

Es wurden keine ernsthaften Bemühungen unternommen, den Massenmord am 2. Mai 2014 im Gewerkschaftshaus in Odessa – das Haus wurde angezündet und knapp 50 Russ*innen, die sich dorthin geflüchtet hatten, starben – aufzuklären.

Man fragt sich: Warum wird das bei uns so wenig thematisiert und warum schlägt bzw. schlugen sich westliche Staaten bisher einseitig auf die ukrainische Seite, auf der solche Verbrechen in den meisten Fällen nicht verfolgt werden? Damit trugen sie zur Eskalation des Konflikts bei.

Es ist also nicht so, als stünden hier die guten westliche Werte gegen böse östliche. Aber die Werte des Westens werden zur Stütze eines simplen Freund-Feind-Schemas.

Die moralische Überhöhung verstellt den Blick auf diplomatische Lösungen

Die Behauptung, dass es bei der Waffenhilfe um die „Verteidigung westlicher Werte“ gehe, macht aus dem Krieg zwischen der Ukraine und dem involvierten Westen einerseits und Russland andererseits einen Glaubenskrieg. Dies entspricht spiegelbildlich einem der Narrative Putins zur Rechtfertigung des Angriffs:  Es geht darum, das Böse in Gestalt des ukrainischen Nazitums zu bekämpfen, also um einen hohen Wert. Umgekehrt bezeichnete z. B. auch der amerikanische Präsident Ronald Reagan in den 80er Jahren die Sowjetunion als das „Reich des Bösen“.

So wird die Debatte auf gefährliche Weise emotionalisiert. Gegenüber symbolisch überhöhten Aussagen spielen Sachfragen und nüchterne Analysen kaum eine Rolle. Wer in diesem Freund-Feind-Schema verharrt, wird sich auch nicht die Mühe machen, sich in die Geschichte des Konflikts einzuarbeiten und nach Lösungen außerhalb des Schlachtfelds suchen.

Gleichzeitig werden die völkerrechtswidrigen Kriege der Nato-Staaten wie z.B. in Jugoslawien oder Libyen sowie die Schritte, die durch die Nato-Osterweiterungen und die einseitige Haltung bezüglich des Konflikts zwischen der ukrainischen und russischen Bevölkerung zur Eskalation beigetragen haben, ausgeblendet.

In der Position des moralisch Überlegenen gibt man sich nur damit zufrieden, bis Russland irgendwann aufhört zu kämpfen und klein beigibt, weil es wirtschaftlich so geschwächt ist, es besiegt oder Putin gar intern gestürzt wird. Abgesehen davon, dass es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass nach Putin demokratischere Kräfte das Sagen haben werden – auch jetzt scheint Putin beachtliche Unterstützung in Russland zu genießen – heißt das, dass sich der Krieg in der Ukraine noch viele weitere Monate, wenn nicht sogar Jahre hinzieht. Was das bedeutet: weitgehende Zerstörung des Landes, Tod, unendliches Leid sowie die Gefahr einer Ausweitung des Krieges.

Die Politik gegenüber Russland muss auch jetzt solcherart sein, dass sie ein friedliches Auskommen mit diesem Land nicht auf Jahrzehnte unmöglich macht. Eine diplomatische Lösung wird vermutlich nur möglich sein, wenn Putin erhobenen Hauptes aus der Sache herauskommt. Das mag uns verständlicherweise große Bauchschmerzen verursachen – aber was wäre die Alternative?

„Wir machen im Moment sehr viel Kriegsrhetorik – aus guter gesinnungsethischer Absicht“, sagt Brigadegeneral a.D. Erich Vad. „Aber der Weg in die Hölle ist bekanntlich immer mit guten Vorsätzen gepflastert. Wir müssen den laufenden Krieg zwischen Russland und der Ukraine vom Ende her denken. Wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen, müssen wir früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen.“[9]

[1] https://www.berliner-zeitung.de/news/ukraine-krieg-wolodymyr-selenskyj-der-sieg-muss-auf-dem-schlachtfeld-errungen-werden-li.233967 und https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-06/ukraine-uebersicht-friedensvertrag-selenskyj-eu-gas-israel?utm_campaign=Sahra%20Wagenknecht&utm_medium=email&utm_source=Revue%20newsletter

[2] https://www.heise.de/tp/features/Keine-Verhandlungen-mehr-Waffen-mehr-Widerstand-7078407.html?seite=all

[3] SZ am 21.9.21: (https://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-korruption-rechnungshof-1.5419576

[4] https://www.youtube.com/watch?v=H2AKGJTWlnA&t=2s

[5] https://www.regensburg-digital.de/stadtraetin-kritisiert-liveschalte-mit-ob-von-odessa-tief-in-organisierte-kriminalitaet-verstrickt/20052022/

[6] https://www.pressenza.com/de/2021/08/ukraine-auf-dem-weg-zum-nazi-staat-macht-und-einfluss-ukrainischer-rechtsextremisten-in-der-postmaidanen-politik-ii/

[7] https://consortiumnews.com/2022/03/04/how-zelensky-made-peace-with-neo-nazis/ und https://www.pressenza.com/de/2021/08/ukraine-auf-dem-weg-zum-nazi-staat-macht-und-einfluss-ukrainischer-rechtsextremisten-in-der-postmaidanen-politik-ii/

[8] „War crimes of the armed forces and security forces of Ukraine: torture and inhumane treatment. Second report“: https://www.osce.org/files/f/documents/e/7/233896.pdf.

[9] https://web.de/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/ex-merkel-berater-vad-lieferung-schweren-waffen-ukraine-36771660

 

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